La Gomera (2) - Zürich. Wie nimmt ein Bild Gestalt an?

Zum Beispiel so: Am ersten Tag auf La Gomera zeichnete ich in meinem Skizzenbuch die Farne, die auf meinem von der afrikanischen Sonne beschienenen Hotelbalkon in den Blumenkisten zwischen stacheligem Christusdorn wuchsen. Eidechsen raschelten gern dort.

Diese Farne verblüfften mich, da mir unsere Farne eher als schattenliebende Waldbodenbewohner bekannt waren. Farne sind die Lieblingspflanzen meiner Mutter, die sie jahrelang studiert hat und über ihre Studien ein ganzes handgeschriebenes und gezeichnetes Kompendium verfasste. Zudem wurde der Balkon durch eine Säule links und eine rechts von den benachbarten Appartments abgetrennt, was man als Schweizerin ja auch nicht jeden Tag hat (vielleicht als Römerin schon :-).

 

 

Dieser Balkon war also für zwei Wochen mein Zuhause. Da frühstückte und telefonierte, las und ass ich. Da guckte ich Strandpromenade und Sonnenauf- und Sonnenuntergänge und übte Sonnengrüsse.

Eines Nachmittags lag ich auf meiner Yogamatte und die Sonne beleuchtete noch ein einziges allerletztes Farnblatt vor dem tief blauen Himmel. Und das war so ein kleiner Moment, den ich nicht mehr vergessen konnte. Weil in ihm alles, was auf La Gomera anders war als daheim in Zürich, zusammen gekommen war: neue, verblüffende Eindrücke, afrikanisches Licht, das wunderbare Wetter mit Wind, Wolken und Sonne, die Farne, der Gedanken an meine Mutter, die ich schon eine Weile nicht mehr gesehen hatte, und die Zeit draussen, Zeit zum Schauen und Beobachten, Zeit zum Zeichnen, Zeit zum Hinhören.

 

So entsteht manchmal ein Bild. In einem Offensein und achtsamen Wahrnehmen fällt mir etwas auf, und dieses etwas ist irgendwie hartnäckiger als andere Eindrücke. Es verbindet sich mit etwas für mich Bedeutsamem. Aus einer persönlichen Kombination von Visuellem und hinzu Erinnertem ergibt sich das Bild, wenn es mir gelingt, gut genug hinzuhören.

 

Das Bild entstand, als ich bereits zurück war in Zürich, während der Zaubertage zwischen Weihnachten und dem Jahreswechsel. Der Farn war diesmal ein fröstelnder, schattenliebender Waldbodenbewohner, und zu ihm gesellten sich trockene Samenstände von Kräutern. Als ich sie mit klammen Fingern abbrach, um sie daheim im Warmen zu malen, fügte sich das Bild vor meinen Augen so klar zusammen, als würde es mir samt Titel diktiert: Lettre à ma mère. Der Farn wie ein Text oder Gedicht und dazu das tapfere Eichenlaub und noch die trockenen Zweige und Samen wie eine vergänglich-leichte Interpunktion.

 

Und so hab ichs dann auch gemalt.

 

Lettre à ma mère, 2019, Gouache auf Papier, 40 x 28 cm © Lisa Keuerleber
Lettre à ma mère, 2019, Gouache auf Papier, 40 x 28 cm © Lisa Keuerleber